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Bei Sturm und Eis ziehen Reetschneider ins Moor

Die Meyers ernten seit 110 Jahren am Großen Meer das gefragte Sumpfgras

 

              Von ppl-Korrespondent Jochen Wagner aus dem Jahr 2002

 

Emden (ppl).- Mit Reet, Ried oder Reet deckt man seit Menschengedenken in Norddeutschland und anderen wasserreichen Gegenden landestypische Bauernhöfe und schmucke Bürgerhäuser. Dachpfannen aus Zement, Schiefer und Ton haben erst in diesem Jahrhundert den natürlichen Baustoff weitflächig abgelöst. Derzeit verarbeiten in der Bundesrepublik etwa 100 Dachdeckerbetriebe dieses nostalgische Material aus kargen Moor- und Sumpfgebieten.

 

Erst wenn Frost und die starken Herbststürme die hellbraunen Reethalme von ihren welken Blättern und Rispen befreit und glattgeputzt haben, holen die ostfriesischen Reetschneider ihre langstieligen, eigens für sie angefertigten Sicheln hervor. Nach altem Brauch und verbrieftem Recht ziehen noch rund zwei Dutzend von rund 35 berechtigten Reetschneider-Familien zwischen Weihnachten und März mit hohen Seestiefeln und dicken Wintersachen ins Gelände. Sie ernten an Seeufern, im Moor und an den Tiefs das von ihnen als Reet bezeichnete Sumpfgras.

 

"Sie sähen nicht und ernten doch", lacht Dachdeckermeister Behrend Meyer jr. von Bedekaspel bei Emden, wenn er die wertvollen Bündel zum Trocknen in die Hallen einfährt. Früher wurden die bis zu 2,30m langen Reetbündel draußen zu großen hüttenähnlichen Haufen aufgeschichtet und von Gänsen bewacht. "Wir haben Angst, daß uns jemand die Reetstapel anzündet, der Verlust wäre zu groß, seit einigen Jahren lagern wir unseren natürlichen nachwachsenden Rohstoff lieber in gesicherten Hallen," berichtet Behrend Meyer jr. eher nachdenklich.

 

Seit über 110 Jahren lebt seine Familie in der 3. Generation vom windgepeitschten Reet der ostfriesischen Binnengewässer. Auf den etwa 100 Hektar großen Schnittflächen holten die Ostfriesen in guten Erntezeiten bis zu 150.000 Bund Reet an Land. Seit einigen Jahren hat die Naturschutzbehörde die Ernteflächen vorsorglich um die Hälfte reduziert.

 

Erst wenn starker Frost die Arbeit auf den Höfen und Äckern lahmlegt, verdienen sich Familien wie die Benningas, Nörders und Peters als Reetschneider etwas dazu. Von einem Hektar fahren die Ostfriesen bis zu 250 Bund Reet ein. Dachdecker Meyer jr. prüft die angelieferten Reetbündel sehr genau. Das Bundmaß soll einen Umfang von 60 Zentimeter haben, die einzelnen Halme neun Millimeter nicht überschreiten und in der Masse nicht länger als 1,80 Meter sein.

 

"Je feingliedriger desto besser", urteilt der 35jährige Ostfriese und zieht einen Reethalm sachkundig durch die geschlossene Hand. Je nach Gütegrad zahlt er für ein Bund zwischen zwei und 2,50 Euro. "Vorausgesetzt, das Reet stammt von kargen Böden", gibt Meyer zu bedenken. Denn auf fetten und nährstoffreichen Flächen wächst kein gutes Reet; es schießt zu schnell und bekommt dadurch nicht die erforderliche Materialfestigkeit. Meist aus Osteuropa importiertes billigeres Reet zerbröselt häufig nach 20 Jahren. Nur Reet, das langsam auf kargen Sand- und Moorböden wächst, erzielt auf dem Markt gute Preise.

 

Am Halm kann Reet-Experte Meyer auch das vergangene Wetter ablesen:

"War das Jahr so wie neulich warm und trocken, sind die Halme kurz und fest gewachsen und wir sprechen von einer guten Ernte. Hat es dagegen viel geregnet, werden die nassen Halme vom Wind auf den Boden gedrückt und wachsen krumm." Das wiederum bringt Ärger bei der Verarbeitung auf dem Dach.

 

Behrend Meyer jr. reist in Sachen Reetdächer inzwischen das ganze Jahr mit einem Dutzend Mitarbeitern in der Bundesrepublik herum. Für den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt hat er zum Beispiel am Brahmsee ein schmuckes, dort sagt man auch Reetdach, aufs schicke Landhaus gebaut. Oder bei Bundenbach und der Ortschaft Rhaunen im Hunsrück deckten die Ostfriesen 25 Hütten nachbebauter Pfahlsiedlungen aus der Keltenzeit mit Reet ein. Auch im fernen Baden-Württemberg haben sie an historischen Gebäuden gearbeitet oder in München sogar eine katholische Kirche mit  - dort Ried genannt - fachkundig eingedeckt.

 

Mit dem Treibbrett klopfen die Spezialisten auf einem Quadratmeter Dachfläche bis zu 15 Bündel Ried fächerförmig untereinander. Das ergibt gewöhnlich eine Dachstärke von etwa 35 Zentimetern. Bei großflächigen Giebeln schafft ein flott arbeitender Dachdecker "ohne Schnörkel und Zierkanten" am Tag bis zu zehn Quadratmeter. Bei schwierigen Konstruktionen, wie zum Beispiel Eulen-Löchern und Fenstern, beträgt die Tagesleistung die Hälfte. Der Bau eines Ried-,Reet-, oder Reithdaches lohnt aber erst ab einer Dachneigung von 45 Grad und darüber, weil sich auf niedrigeren Flächen sonst zu viel Regenwasser im Material sammelt. "Bei entsprechender Dachneigung und gutem Material hält so ein Reetdach länger als 70 Jahre, an steilen Windmühlen sogar über 100 Jahre," rechnet Behrend Meyer jr vor.

 

Ein fertig gedeckter Quadratmeter Reetdach kostet je nach Schwierigkeitsgrad bis zu 75 Euro, ein komlettes Dach etwa 35.000 Euro, dabei werden zwischen 2.000 und 2.500 Bund Reet verarbeitet.  Meyer-jrs Gesellen verarbeiten pro Jahr bis zu einer Viertelmillion Bund Reet. Obwohl ein gutes Reet-Dach auf mittlere Sicht eine stattliche Summe von bis 50.000 Euro kosten wird, hat Meyer jr derzeit als einziger kommerzieller Reetdachdecker in Ostfriesland keine Existenz- und Nachfolgesorgen. Der Betrieb wird vermutlich in der 4. Generation weitergeführt und Lehrlinge gibt es für den Beruf neuerdings auch wieder genug. Nach Angaben der Dachdecker-Innungen arbeiten in Schleswig-Holstein noch 55 und in Ostfriesland etwa 35 Betriebe mit dem nachwachsenden Baustoff. Bundesweit sollen es um die 150 Dachdecker sein, die das spezielle Handwerk zuweilen wieder ausüben.

Presseplan/Jochen Wagner Bonn/heute Spetzerfehn

 

Hinweis:

Natürlich ist die zufällig ausgegrabene Geschichte ganz klar Reet von gestern aber immer noch aussagekräftig. Heute sind Dächer aus Reet wieder mehr Kult und Trend. Und sie kosten aber jetzt auch deutlich mehr als vor einem Vierteljahrhundert. Doch dazu mehr im Teil 2, mit einem leidenschaftlichen Reetdachdecker aus Ihlow.