Literatur / Schöne Geschichten


Das Gänsehaus an der Bockwindmühle ( Die Gans Gertraud )

Von Jochen Wagner /28.05.2025

 

Junos Tempelgänse verhindern Überfall auf dem Kapitol

Von Jochen Wagner

 

Mit Heimweh im Gänsemarsch zurück

Von Jochen Wagner

 

Das Gänsehaus an der Bockwindmühle ( Die Gans Gertraud )

Von Jochen Wagner /28.05.2025

        

Vor langer Zeit: Gänse bewachen Reethstapel von Behrend Meyer am Großen Meer bei Bedekaspel.

Foto: Jochen Wagner

 

 

Das geheimnisvolle Reet-Gänsehaus an der Bockwindmühle

Gertrud - die tapfere Gewittergans rettet Dornumer Mühle vor dem Verfall

Mühlen-Holzwürmer machen niemals Mittagspause – Reet-Müller findet vom Moorfuchs verletzte Wildgans im Schilf – In Dornum herrscht das ganze Jahr über strenges Gänsebratenverbot - Aberglauben: Ostfriesenfürst will mit Goldener Gans auf dem Schlossturm Blitzen und Stürmen trotzen

 

                                           Von Windmüller Jochen Wagner

 

Alle Mühlen in der ganzen Welt haben eigentlich nur drei wirkliche Tod-Feinde nämlich 1. Sturm/Fluten 2. Gewitter mit Blitz und Donner sowie - Ihr werdet es kaum glauben - 3. Im Mühlen-Gebälk versteckte winzige aber rund um die Uhr gefräßige Holzwürmer.

 

Und wenn wir Don Quichotte, den Ritter von der traurigen Gestalt, noch dazu zählen wollen (er kämpft auf seinem Pferd Rosinante zusammen mit seinem Gefährten Sancho Pansa (der reitet auf einem Esel) immer noch gegen die überall in der Welt verstreuten Windmühlen - dann sind es sogar vier sehr bedrohliche schlimme Mühlen-Feinde.

 

Also wenn man es mit anderen Worten und unterm Strich genau sagen will, dann gibt es ein richtig böses Mühlenfeinde-Quartett, das den Wind-Mühlen an die flotten Flügel und damit den Garaus machen will. Und zwar nicht nur hier in Ostfriesland oder in ganz Deutschland, sondern vielmehr auf der ganzen Welt.

 

Was aber kann man gegen diese vier heimtückischen Mühlenfeinde zumindest hier vor unserer heimischen Haustür tun?

 

Heute in moderner Zeit gibt es ja "den Erfinder/innen sei Dank" meist immer funktionierende Blitzableiter, sogar aktuelle Wettervoraussagen im Fernsehen, im Internet, auf dem Handy oder auch in den Zeitungen. Und auch schon die ein oder anderen umweltschonenden wirksamen Schädlings-Bekämpfungsmittel sind auf dem Markt.

Aber reicht das wirklich alles aus, um unsere fast noch ein halbes Hundert zählenden ostfriesischen halbwegs funktionierenden Windmühlen vor der totalen Zerstörung zu retten? Was denkt Ihr? Stimmt einfach mal ab!

 

So! Jetzt verrate ich euch, wer die Mühle in Dornum wirklich fast ein halbes Jahrtausend vor völliger Zerstörung und totaler Vergessenheit gerettet hat.

 

Gemeint ist ein so genannter echter Glücksbringer, ein richtiger Schutzengel mit kräftiger weit hörbarer Warn-Stimme, rotem Mund, eleganter Zunge, ein Paar rosafarbenen Laufschuhen, sehr schönen überaus weichen Federn und zwei kräftigen ausdauernden flugsicheren Flügeln.

 

Wer könnte das sein? Ratet einfach mal mit!

 

Nein, der Erzengel Michael ist es nicht, auch nicht die von den Müllern schon sehr lange verehrten Schutzpatrone wie der hl. Nikolaus oder der hl. Nepomuk. Es ist vielmehr ein Einfaches, liebenswürdiges, friedliebendes Wesen, das den Menschen schon immer in vielerlei Hinsicht - vor allen in schweren Zeiten –„ in echt“ geholfen hat.

 

Es handelt sich genau gesagt um Gertrud, die weltberühmte vor allem aber speziell in Ostfriesland sehr, sehr, sehr verehrte mühlenrettende Gewittergans von Dornum.

 

Ein beliebter Wappenvogel der dort hiesigen Müller, Bäcker, Torf- und Backsteinschiffer. Man würdigt ihre Verdienste einmal im Jahr am Gertrudis-Feiertag – es ist hier im Ort der 11.11. ab 11 Uhr 11. Diese Zahlenreihe kann keiner so schnell vergessen. Übrigens in Dornum herrscht seit langer Zeit schon das ganze Jahr Gänsebratenverbot.

 

Ihr könnt es glauben oder auch nicht. Unsere Gewittergans Gertrud sieht tatsächlich alles, hört alles, riecht alles, schmeckt alles, weiß oder ahnt zumindest alles. Und dies zu Wasser, in der Luft und auf dem Lande. Sie kann ihre sehr wertvollen Beobachtungen etc. etc. pp natürlich auch den Menschen mitteilen.

 

Jetzt seid Ihr Baff oder?  Ja, und dies zu Recht!

 

Denn das alles schafft heute nicht einmal eine sau-teure moderne Mega-Akku-Drohne. Gertrud, die Gewittergans aber wohl. Und das schon über eine „gans gans“ lange Gans-Zeit.

 

Aber wie hat sie das alles nur so geschafft?

 

Beim meist nächtlichen Müller-Klönschnack im alten Dornumer Land hat man sich früher jeden Tag über Gertruds schier unglaubliche Wundertaten immer sehr ausführlich unterhalten (es gab damals noch kein Handy aber Torfköm).

 

Es kommen heute immer noch viele alte und neue Gänse-Abenteuer dazu. Wenn ihr einmal eine Gertrud-Geschichte aus eurer Familie erfahrt, dann könnt ihr sie beim vereidigten Mühlenschreiber in der Mühlengemeinde Dornum zu Gehör und zu Papier bringen oder auch mit dem Handy senden.

 

Das Buch über die vielen fast nie enden wollenden faszinierenden Abenteuer der Gewittergans Gertrud füllt inzwischen sage und schreibe 11.111 Seiten.

 

Aber woher die alle stammen - wollt ihr sicher wissen?

 

Vor allem von der sehr alt und vor allem sehr weise gewordenen Bockwindmühlen-Müllerfrau –einer berühmten Ur-Ur-Ur--Großmutter damals „Fenna“ (Ostfriesisch für "Frieden") gerufen. 

 

Die Gute wurde – man kann es kaum glauben - genau 111 Jahre alt. Sie hatte 11 Töchtern das Leben geschenkt, auch diese bekamen jeweils 11 Töchter und deren Töchter wurden auch alle 11-mal Mutter usw. usw. usw.

 

Insgesamt würde die Fenna – wenn sie heute noch lebte - exakt 1111 Kinder und dazu noch etliche KindesKindesKindeskinderkinder zählen können.

 

Denn wenn davon eines später stirbt (und das tut jeder Mensch letztendlich), wird genau 11 Sekunden danach irgendwo im Lande ein neues Tochterkind aus der Fenna-Linie geboren. So bleibt die Zahl 1111 für immer als Familiengröße bestehen.

 

Die Kinderkindeskinder leben im ganzen Land verstreut und kommen nur am offiziellen örtlichen Gertrudisfeiertag - am 11.11. um 11 Uhr 11 - zu Dornum in einem Riesenfestzelt aus Reeth zusammen.

 

Genau 11 Fotografen sind notwendig, um jeden einzelnen Festbesucher, jede Festbesucherin im Bild festzuhalten. Sonst könnte sich ja kein Mensch die vielen Familien-Gesichter merken.

 

Fenna hatte dies alles und noch viel mehr immer wieder mit einer angespitzten Feder von der lieben Gertrud – die Feder wurde ins Moorteertintenfass getunkt - zuerst auf der freien Rückseite einer 111 Meter langen zusammengeklebten Tapetenrolle für die Nachwelt – also damit natürlich auch für euch - extra in schönster Müllerinnen-Handschrift, das ist eine Art Geheimsonderschrift - festgehalten.

 

Später wurden die Geschichten der Gewittergans Gertrud (zuerst in unsere heutige Sprache übersetzt) mit einer scharfen Schaf-Schere von der Rolle abgeschnitten und mit 11 Pfund Buchweizenkleber zu einem 1,11 m dicken Buch zusammengeklebt.

 

Übrigens ist Buchweizen – ein Knöterichgewächs und kein Korn – schon immer eine Lieblingsspeise der Gewittergänse. In der Dornumer Bockwindmühle steht für alle Fälle immer ein 111 Pfund schwerer Buchweizensack auf dem Mehlboden für durchziehende Gewittergänse parat. Man kann ja nie wissen!

 

 

Wie aber kommt die Gewittergans Gertrud nur zu ihrem ungewöhnlichen Namen?  Nicht ganz einfach!

 

Reet-Müller Rickmer Rieken war vor ewigen Zeiten an den flachen heimischen Meeren – so heißen hier die Seen - in den Binsen unterwegs, um Reet für das Dach des Müllerhauses zu schneiden. Die Binnengewässer mussten zugefroren sein, sonst klappte es nicht mit dem Binsenschneiden. Gummistiefel gab es damals noch nicht, die meisten Leute trugen Holzschuhe mit Lederstulpen, auch Klompen genannt.

 

Beim Bündeln der langen trockenen Röhrengräser hörte Rickmer erstaunlicherweise ein ganz leises Klagen im Reet.  Es kam von einer verletzten Wildgans, die sich im hohen Röhrengras versteckt hatte. Das Tierchen stammte wohl vom diesjährigen winterlichen Vogelzug, war stark abgemagert und blutete aus mehreren Wunden. Der linke Gänsefuß war sogar eingerissen, ein sehr schön gemusterter Flügel hing mehr als schlapp von der rechten Schulter herab.

 

Ein sehr, sehr beklagenswertes Geschöpf. Das war sicher das unglückselige Werk des Moorfuchses, der sogar vor keinem Hühnerstall und auch nicht vor den Gänsewiesen an den Höfen im Ort Halt machte.

 

Müller Rickmer Rieken hatte Mitleid mit der fast leblosen Wildgans, wickelte das geschundene Federvieh in seinen warmen Umhang und nahm die beklagenswerte Gans mit heim zur Mühle.

 

Die Müllerfrau hatte zuvor den gekachelten Ofen mit getrockneten Torfstucken gut gefüllt, die Stube war inzwischen lecker warm. Müllerfrau Fenna mischte Kleie – das sind Schalen von Getreidekörnern - und Buchweizenschrot in einem hölzernen Backtrog an und gab der Gans davon zu essen. 

Gleich 11 Portionen am 1. Tag! Aber erst nur ein paar kleine Löffel voll, dann reichte sie der Gans ein paar Tage später eine ganze Breischüssel davon, die ruckzuck geleert wurde.

 

Auch die Wunden der Gans hatten sie gut mit Heilkräutern behandelt und sie heilten deswegen recht schnell. Die Wildgans war jetzt auch nicht mehr so wild. Sie erholte sich am Ofen in einer mit Stroh gepolsterten ausgedienten Torf-Kiste sehr schnell, musste aber zum Kackern nach draußen auf die Wiese getragen werden.

 

Nach drei Wochen konnte die Gans allein im Müllerhaus und auch draußen im schönen Molenerf – das ist bekanntlich der Müllergarten – munter herumgehen. Auch ihr typisches Geschnatter klang schon kräftiger.

 

„Wie sollen wir die Gans denn rufen,“ wollte der Müller wissen. Fenna blätterte in ihrem uralten Kirchenbuch. Die Wildgans wurde am 13. Tag im 11. Monat des Jahres gefunden.

 

Das ist der Namens-Tag der Gertrud, auch die Große genannt. Mit 25 Jahren hatte diese als Nonne ihre erste Christus-Vision. Bis zu ihrem Tode hatte sie diese mystischen Erscheinungen öfters und hielt die wundersamen Ereignisse in ihren Niederschriften fest. Dafür wird sie auf der ganzen Welt verehrt.

 

Dieses Lebenswerk gefiel Fenna und auch dem Rickmer recht gut. Kurzum, die Müllerfamilie gab der Wildgans den Namen Gertrud. Den Titel „Die Große“ musste sich die nun adoptierte graue Wildgans Gertrud in Dornum freilich noch verdienen.

 

Einer Legende nach soll eine andere hl. Gertrud durch ihr Gebet ihr schönes Land von einer üblen Mäuseplage befreit und so die wertvolle Ernte und damit sehr viele Menschen vor dem Hungertod gerettet haben. St. Gertr(a)ud ist übrigens auch die Schutzheilige der Gärtner, der Feld- und Wiesenfrüchte sowie die überaus wichtige Schutzheilige gegen Ratten- und Mäuseplagen. Auch das passte dem Müllerpaar zur Namensgebung für die Wildgans ins Konzept. Mäuse und Müller passen nämlich überhaupt nicht zusammen. Warum wohl?

 

Eine Bauernregel lautet zudem: „Es führt St. Gertrud die Kuh zum Kraut, die Biene zum Flug und die Pferde zum Zug.“ Denkt mal darüber nach.

 

Eine andere Gertrude die "Meisterin von Altenberg“ war die Tochter der hl. Elisabeth von Thüringen. Sie soll die Gabe der Weissagung besessen haben.

 

All diese wundersamen Fertigkeiten werden wir später auch bei unserer Wildgans Gertrud gleichfalls entdecken. Aber das ist euch sicher schon klar geworden.

 

Gans Gertrud entwickelte sich prächtig. Sie schlug immer Alarm, wenn sich Raubzeug am Boden oder aus der Luft der Mühle und den Tierställen näherte.

 

Auch fauchte, schrie und schnatterte sie, wenn sich Nachbarn oder Fremde auf die Mühle zubewegten.

 

„Besser als jeder Wachhund,“ meinte Müller Rickmer Rieken. Fenna und die Wildgans saßen auch oft auf der Mühlenbank zusammen, zwischen beiden herrschte eine sehr sehr innige Freundschaft. Müllerin Fenna konnte auch wie keine andere die unterschiedlichen Schnattergeräusche für Müdigkeit, Hunger oder Furcht und Aufgeregtheit sehr genau deuten.

 

Nur eines mochte die Wildgans nicht. Nämlich wenn sie des nachts zu ihrer eigenen Sicherheit in den Torfschuppen gesperrt wurde. Sie wirkte dann traurig und unglücklich, fürchtete sich in dem dunklen Verschlag auch vor Ratten und Mäusen.

 

Das Müllerpaar Rickmer und Fenna mochten dies ihrer liebgewordenen Wildgans nicht länger antun und suchten eine Lösung, die allen gerecht wurde.

 

Unweit der Mühle gab es ein unbewohntes Storchennest auf dem Scheunendach der Mühle. Dort würde kein Fuchs hinkommen. Und allemal besser als der ungeliebte Torfschuppen.

 

Doch zum Brüten eignete sich das ausgediente Storchennest auch nicht für die liebgewordene Gans. Zudem war die Wildgans immer gierigen Raubvögeln, lästigen Nesträubern, Hitze, Wind, Regen oder Hagel sowie anderen Wetterereignissen schutzlos ausgesetzt. Und eine unglückliche, ehemalige Wildgans mochte das alte Müllerpaar auch nicht um sich haben.  

 

Lange Rede - kurzer Sinn: Es musste ein eigenes Gänsehaus her. Der Müller ließ ein geräumiges hausähnliches Gestell aus Weidenruten flechten und verkleidete den Kasten mit Lehm, Reet und Heidekraut. Mit den ältesten Baustoffen der Welt wurde das Reethaus für die Wildgans an nur einem Tag – genau gesagt in 11 Arbeitsstunden - fertig. 

 

Müller Rickmer kletterte die Gatter der Mühlenflügel hinauf, zog mit einem Seil das schöne Reethaus hinauf und befestigte es an der Windseite der Bockwindmühle zwischen zwei Fensterluken, sodass die besegelte Hausrute innen– die andere zeigt nach außen und heißt Feldrute – beide noch genügend Platz zum Drehen der Flügelpaare hatten.

 

Fenna packte Gertrud in einen Weidenkorb, Rickmer zog den Korb mit dem Seil nach oben. Sofort schlüpfte Gertrud in das mit Stroh gefüllte wunderschöne Gänsehaus. Es folgten ein paar raschelnde Bewegungen, dann schaute Gertrud dankbar und zufrieden aus dem Eingang des Gestells. Sie freute sich mit leuchtenden Augen über die gute Aussicht und über ihre jetzt ganz bestimmt ratten- und fuchssichere Behausung. Jetzt endlich war sie eine glückliche Wildgans- überhaupt wohl die zufriedenste Gans weit und breit im ganzen Ostfriesenland.

 

In dieser Zeit hörte man oft von Mühlen, die fremden Soldaten, vom Sturm und/oder Blitzschlägen in Schutt und Asche gelegt wurden. Gertrud hatte einen besonderen Sinn für solche verheerenden Unglücke und Wetter-Ereignisse. Sie merkte irgendwie das herannahen solcher Unbillen schon lange vor den Menschen und schlug sofort Alarm.

 

Müller Rickmer war zum Beispiel sehr froh über die vorzeitige Unwetterwarnungen und machte die Mühle sofort sturmsicher. Auch wenn ein Gewitter heranzog, schlug Gertrud weit im Voraus lautstark Alarm. 

 

Müller, Gesellen und Mühlenknechte hatten so ausreichend Zeit, die Mühle sicher stehenzulassen und andere vorbeugende Maßnahme zu treffen. Löschwasser, Holz- und Ledereimer, Sand und Feuerpatschen sowie lange Reißhaken wurden griffbereit auf den Söllern (Böden) der Mühle platziert. Auch die Nachbarn waren gewarnt und in Ruf-Bereitschaft versetzt. Schon zum 11. Male konnte Gertrud mit ihren Vorahnungen in kurzer Zeit so die Menschen und Haustiere um sie herum vor wetterbedingtem Ungemach bewahren.

 

Andere Nachbarorte kamen leider nicht so ungeschoren davon. Sogar der Landesfürst ließ sich von der vorsehenden und vorahnenden Wildgans im Reethaus an der Mühle berichten, wollte sogar Getrud höchst persönlich in Augenschein nehmen.

 

Ohne jedwede Vorwarnung tauchte Fürst Onno mit einer Reitereskorte an der sehr alten Windmühle auf Ständern gebaut – eindrucksvoll auf. „Wo ist eure Wundergans, die üble Feinde, Gewitter mit Sturm, Blitz, Donner und auch Hagel vorhersagen kann?“ wollte der Friesenfürst wissen.

 

Müller Rickmer und Fenna hatten mit Gertrud einen Lockruf eingeübt, falls die sich mal weiter von der Mühle entfernte. „Piller, Piller, Piller komm ganz wacker her, sonst gibt’s in Dornum an der Mühlen ein Groß-Malheur (Missgeschick, Unglück)!“

 

Wenn Gertrud diesen Lockruf vernahm, dann dann war Ostfriesland in Not, dann flog sie fast mit Schallgeschwindigkeit im Sturzflug zur Bockwindmühle nach Dornum. Mit schrillem Schrei kam die jetzt fast schon zahm gewordene Wildgans meist aus Richtung Norden von den Tiefs kommend schnell heran und landete mit weit ausgebreiteten Flügeln vor dem Müllerpaar. Fürst Onno war ganz angetan von der so alarmierten Gans.

 

„Ihr könnt aale sehr stolz auf euer erstaunliches Federvieh sein. Die Gewittergans kommt mit mir zum Schloss nach Auerk (Aurich), sie soll dort Land und Leute vor bösen Überraschungen bewahren. Dort wird sie dringender benötigt als bei euch an der Mühle. Steckt die Gewittergans in einen Maltersack. Wir reiten mit ihr gleich los,“ befahl Fürst Onno.

 

Fenna und Rickmer trauten sich nicht zu widersprechen. Es hätte in dieser damaligen Zeit wohl auch nichts genutzt. Traurig gingen die beiden alten Leutchen zu ihrer Mühle und weinten 11 Stunden lang, 11 Liter Tränen – beide wollten sie doch so gerne ihre liebe Gertrud in ihrer Mühle wiederhaben.

 

Friesenfürst Onno hatte für die Gewitterabwehrgans einen goldenen Käfig am höchsten Turm seiner Auricher Backsteinburg anbringen lassen. Doch Gertrud war darin nicht glücklich, sie wurde still und stiller, wollte nichts mehr Futtern, selbst Buchweizenschrot und Kleie ließ sie achtlos liegen. Zu groß war ihr Heimweh.

 

Nach 11 Tagen, 11 Stunden und 11 Minuten war die vom Fürsten beschlagnahmte Gewitterabwehrgans plötzlich verschwunden. Ein müder Turmwächter hatte den güldenen Gänsekäfig nach dem Strohwechsel nicht richtig zugesperrt. Gertrud nutze die Gelegenheit und machte sich im Eiltempo auf den Heimflug nach Dornum.

 

Das gefiel dem Müllerpaar natürlich besonders gut. Endlich hatten sie ihre Gertrud wieder und auch die dem Fürsten entwichene Gans war jetzt wieder sehr glücklich, zufrieden und ganz friedlich.

 

Doch Fürst Onno wollte ohne Schutzheilige im Schloss zu Auerk nicht mehr leben, aber auch nicht die Gans mit Gewalt zurückholen, weil die sonst sicher im güldenen Käfig verkümmern würde. Damit wäre ja niemanden im Ostfriesenlande geholfen.

 

Die Traurigkeit des Fürsten Onno wollten und konnten die Leute im Küsten- und Moorland nicht mehr ertragen. Ein erfahrener Goldschmied hatte eine gute Idee, er sammelte in Stadt und Land viele Golddukaten, ließ diese einschmelzen und in einer handgefertigten Form zu einer goldenen Gans gießen.

 

Als der immer noch traurige und vor allem abergläubige Fürst Onno die funkelnde Wetterfahnengans auf seinem Schloss-Turm entdeckte wurde er sofort wieder froh.

 

Seit dieser Zeit tragen alle Schlösser, Burgen und Kirchen im Onno-Land eine goldene Gans als Schutzpatronin. Sogar einige ostfriesische Mühlen wurden so Gans-verziert und gegen den Fuchs auf dem Fangstock an der Mühlenkappe ausgetauscht.

 

Bald danach wurde es zum Brauch, dass der Friesenfürst einmal im Jahr nach Dornum reiste, um Gertrud - der Gewitterabwehrgans - im geflochtenen Reethaus an der Bockwindmühle seine Aufwartung zu machen und Zwiesprache mit ihr zu halten. So eine Art Gänseorakel. Dem Müllerpaar schenkte er dann immer ein goldenes Gänseei.

 

Und wenn eine Familie in Dornum oder ganz Ostfriesland 11 Kinder hat (wie bei Rickmer und Fenna) übernimmt der Fürst die Patenschaft für das jüngste Kind. Die Eltern werden mit einem Goldgänseei belohnt und dürfen kostenfrei in einem neuen Reethaus wohnen.

 

Zudem hat der Friesenfürst verordnet, dass in der Brutzeit der wertvollen Gans im Umfeld der Bockwindmühle absolute Ruhepflicht herrschen muss. Und die dauert nun mal 11x3 Tage, 11 Stunden, 11 Minuten und 11 Sekunden. Nur Flüstern ist erlaubt. Im Ort werden Straßen und Wege mit Torf bestreut, die Hufe von Pferden, Eseln und auch die Räder der Fuhrwerke müssen zudem mit Stroh, Reet oder Heu umwickelt werden, damit sie die brütende Gewittergans nicht verschrecken oder schlimmstenfalls sogar die Brut gefährden.

 

Und auch die Holzwürmer im Mühlengebälk müssen sich an die vom Friesenfürsten verordneten Brutruhezeiten halten. Doch die gierigen Würmer machen nie Pause, selbst zu Mittag nicht. Müller Rickmer hat sich jedoch zum Vertreiben der Holzwürmer ein wirksames Elixier einfallen lassen.

 

Er bepinselt die vom Wurm befallenen Hölzer 11 Stunden lang mit Brennnesselsaft, 11 Stunden lang mit Distelbrühe, weitere 11 Stunden mit Juckpulver und Pferdeappelsud und noch einmal 11 Stunden mit Stinkmorchelbrühe. Diese Prozedur oder Rosskur hilft immer gegen die Fressfeinde der Mühle.

 

Zum guten Schluss müssen wir noch einen Blick auf das Gelege der lieben Gertrud werfen. Im Gänsehaus der Gewittergans liegen im Nest genau 11 Eier aus denen 11 Küken schlüpfen. Nur eines davon bleibt später an der Bockwindmühle.

 

Die anderen fliegen in andere Mühlenorte, denn auch die sind auf die schlauen Gewittergänse auf Dauer angewiesen. Stirbt Getrud einmal, dann übernimmt die daheim gebliebene Jung-Gans ihre Funktion als Gewittergans. Und die macht es genauso, wie Gänsemutter Getrud es vorgelebt hat.

 

Sollte einmal ein Mühlendorf in Ostfriesland keine Gewittergans mehr in ihrem Umfeld haben, dann ist sicher, dass es dort in 11.111 Jahren keine Wind-Mühle mehr gibt. Aber bis dahin ist ja noch viel Zeit. Also hoffen wir das Beste für unsere Gänse und Mühlen.

Im Mai 2025/6 im 222. Jahr der Mühle Ostgroßefehn

Regie: Für Vorlesungen in der Mühle wird zuvor ein Mühlengänsewappen versteckt oder am Eingang, bzw. auf dem Fangstock etc. angebracht. Der Buchweizensack sichtbar aufgestellt.

Ursprung der Gertrud-Geschichte  Die Kathedrale und die 13 Gänse

Nur wenige können sich dem mythischen Hauch beim Betreten einer gothischen Kathedrale entziehen. Die Stimmen werden gedämpfter, der Blick folgt den schlanken Säulen nach oben und die Besucher nähern sich vorsichtig den Heiligenfiguren in den Seitenräumen. Auch die Besucher der Catedral de la Santa Cruz y Santa Eulalia de Barcelona halten für eine Sekunde den Atem an, um die wuchtigen Eindrücke von Licht, Stein und hallendem Geräuschgewirr zu verarbeiten.

Wer das Anwesen jedoch durch den Seiteneingang Puerta de Santa Eulalia betritt, den empfängt ein heller Innenhof mit Bäumen, einem angelegten Teich und ein fröhliches Geschnatter von 13 Gänsen, die wacker watschelnd das Gebäude bewachen. Der Legende nach war bei den Bauarbeiten im 14. Jahrhundert eine Schar von Gänsen anwesend, die durch ihr Geschnatter einen Einbruch gerade noch verhindert hatten. Man dankte es ihnen und richtete dieses effektive Alarmsystem ein, dass nunmehr mehr als 600 Jahre jeden Einbrecher abgeschreckt hat.

 

Die Zahl 13 symbolisiert das Alter in dem die heilige Eulalia im Jahre 303 von den Römern ermordet wurde. Das Mädchen wollte seinen christlichen Glauben nicht verleugnen und bezahlte diese Standfestigkeit mit dem Leben.

Ihr Martyrium wurde offiziell von der Kirche mit der Heiligsprechung 633 anerkannt. Ihre Überreste liegen in einer Gruft im mittleren Teil der Kathedrale.

 

 

 

 

Mit freundlicher Genehmigung von der Fa. Linneborn aus Freienohl

Repro: Jochen Wagner

 


Junos Tempelgänse verhindern Überfall auf dem Kapitol

Rom. Einer der sieben Hügel Roms - Kapitol genannt - war zwar der kleinste aber dafür ein wichtiger Standort einer Fluchtburg und geweihter Tempelort der römischen Schutzgöttin Juno, Gemahlin von Jupiter.  Hier wurden zu Junos Ehren auch Gänse gehalten. Dort hielt sich auch eine Truppe Römer auf, die Anno 387 vom Schlachtfeld beim Kampf  gegen die Gallier vom Stamm der Senonen fliehen mussten. Ein gallisches Kommando wollte das Kapitol nachts im Handstreich nehmen. Doch eine Tempelgänseschar der Juno schlug Alarm. Der Überfall misslang. Gegen1000 Pfund Gold kamen die Römer schließlich frei. Junos Gänse wurden von den Geretteten sehr verehrt, ihrer Göttin und Warnerin bauten sie zudem einen größeren Tempel. Jochen Wagner



Bilder von  Henri-Paul Motte (auch: Henri Motte) (* 15. Dezember 1846 in Paris; † 23. März 1922 in Bourg-la-Reine). Er war ein französischer Historienmaler. Die Rettung des Kapitols gilt als Verschwunden. Fotos: Wikipedia


 

Mit Heimweh im Gänsemarsch zurück

Das alte ostfriesische Bauernehepaar Gesine und Boje Weers war richtig traurig, als ich damals mit ihrer Emder Landgans „Pipper“ den kleinen Hof in der Nähe eines NATO-Bunkers bei Brockzetel verlies.

Das gut gebaute und nett anzusehende Federvieh sollte zum Grundstock einer Kreuzung mit vier Diepholzer Gänsen beitragen. Alle fünf Gänse vertrugen sich prima.

Ein paar Tage später waren sie fort. Ein Bekannter hatte die fünf zufällig im Gänsemarsch auf einer fast schnurgeraden Betonstraße in Richtung des Bauernhofs gesichtet. Pipper watschelte vorne weg.

Die wackere Leitgans hatte offensichtlich Heimweh und überraschte das alte Bauernpaar mit ihrem Geschnatter und vier neuen gefiederten Freundinnen.

Die Freude war groß über die unvermutete Rückkehrerin mit ihrem Begleitschutz aus Wiesedermeer.

Pipper blieb danach natürlich sichtlich zufrieden auf ihrem gewohnten Hof, die vier ausgewanderten Gänse mussten mit viel Aufwand wieder zurück auf ihre Weide nach Wiesedermeer. Von Wegen blöde Gans.

Jochen Wagner, Spetzerfehn